30.04.2025

Taiwan Today

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Kunst statt Krieg

01.04.1997
Landschaft - 120 x 60 cm, 1980, Tusche und Farbe auf Papier, mit freundlicher Genehmigung des Han Tang Kunst- und Kulturzentrums.
Im letzten November wurde die Internationale Kunstmesse Taipei, eines der wichtigsten künstlerischen Ereignisse der Region während des Jahres 1996, eröffnet.

Besondere Aufmerksamkeit wurde neuen Entwicklungen geschenkt, unterstützt mit Vorträgen über avantgardistische Themen wie Computerkunst, Kunst und Holographie, und die neuen Trends in der Kunst auf Taiwan.

Alle diese Neuerungen hätten dem taiwanesischen Maler Yu Cheng-yao (余承堯), der nie einen Fernsehapparat besaß und immer nur mit dem einfachsten Werkzeug malte, höchstens ein mildes Lächeln entlockt. Vor mehr als einem halben Jahrhundert hatte Yu, damals einer der renommiertesten Generäle unter Chiang Kai-shek, seinen Abschied von der Armee genommen. Die meisten anderen wären zufrieden damit gewesen, sich ein schönes Leben zu machen und auf eine erfolgreiche militärische Karriere zurückzublicken. Doch Yu beschloß statt dessen, Maler zu werden - und nach vierzig zurückgezogenen Jahren voller Anstrengungen wurde er von den Kritikern als Genie gefeiert.

In einem Gedicht sinniert Lord Alfred Tennyson über den alternden Ulysses - ein pensionierter Kriegsheld, der entschlossen ist, noch einige Heldentaten zu vollbringen, bevor der Tod den letzten Vorhang schließt. Der Dichter könnte allerdings genauso an Yu Cheng-yao gedacht haben. Yu, ein ehemaliger Generalleutnant, kämpfte in der Armee der Nationalisten gegen die Japaner und die chinesischen Kommunisten. Mit 48 trat er in den Ruhestand und verbrachte die folgenden vierzig Jahre in Abgeschiedenheit, bevor er sich als Maler einen Namen machte. Er starb 1993 im ehrwürdigen Alter von 95, kurz nachdem er berühmt geworden war. Er bleibt den Leuten nicht als großartiger General, sondern als Künstler in Erinnerung. Seine Geschichte wurde zur Legende.

"Ich vergleiche ihn mit Amerikas Grandma Moses", sagt der Kunstkritiker und Professor an der Universität Kansas Li Chu-chin (李鑄晉), der Mann, der als erster Yus enormes Talent erkannte. [Die amerikanische Malerin Anna Mary Moses, 1860-1961, begann erst im Alter von 70 Jahren zu malen. Ursprünglich eine Farmersfrau, malte sie vor allem freundliche Landschaftsbilder mit kleinen Figuren.] "Seine Reifezeit fing erst spät an. Vorher vergingen lange Jahre der Kultivierung und Verfeinerung, alles für einen kurzen Moment der Blüte - blendend, reich an Farben und doch so dauerhaft."

Soldat, Dichter, Kalligraph und Erzähler: Das alles war Yu Cheng-yao. Der Welt bleibt er aber als Maler in Erinnerung.

Die frühen Jahre Yu Cheng-yaos waren dem Soldatenleben gewidmet. "Was kann ein General, der den Krieg verloren hat, schon groß erzählen?" war seine viel zu bescheidene Antwort auf die Frage nach seiner militärischen Karriere. Chen Mei-o (陳美娥), Yus Adoptivtochter, kümmerte sich bis zu seinem Tod um ihn und stand ihm von allen Menschen am nächsten. Erst einige Jahre nach ihrer ersten Begegnung erfuhr sie, daß er ein hoher Armeeoffizier gewesen war. "Er war einer der wichtigsten Entscheidungsträger während des Krieges gegen die Kommunisten", erinnert sie sich. "Kurz bevor sich die Nationalisten nach Taiwan zurückzogen, trat er in den Ruhestand. Er wußte zu viel über den Krieg, und das machte ihm schwer zu schaffen. Er hat gesagt, Krieg sei nichts als Morden, und das passe nicht zu ihm. Er wollte nicht mehr darüber reden."

Warum hat Yu sich so früh zur Ruhe gesetzt? Viele behaupten, daß er auf der Karriereleiter noch höher hätte steigen können, wenn er gewollt hätte. Genau wie Chiang Kai-shek selbst hatte er die Militärakademie in Tokio besucht. Einige glauben, er habe sich zurückgezogen, weil es zwischen ihm und dem Generalissimus Unstimmigkeiten gegeben habe, doch in diesem Fall hat er das Geheimnis mit ins Grab genommen.

In den späten Jahren stellte er sicherlich nicht mehr dar, was man unter einem Kriegshelden versteht. Ho Huai-shuo (何懷碩), ein bekannter Maler und Kunstkritiker, besuchte ihn oft, den "alten Herrn Yu". Er erinnert sich noch gut an die bescheidene Hütte: "In einer Ecke lag ein Stoß ungewaschener Kleider, ein elektrischer Reiskocher und eine schmierige Eisenpfanne. Ausrangierte Türflügel dienten als Tische und Regalbretter, und auf dem Fußboden lagen haufenweise lose Gemälde herum. Einige davon waren feucht, andere schon von Ratten und Insekten angefressen, einige unter das kleine gurtbespannte Feldbett geschoben, und viele weitere lagen einfach herum, bedeckt mit Fußabdrücken."

Eigentlich war Yus Fall typisch für viele Soldaten, die 1949 mit der Kuomintang-Regierung nach Taiwan kamen. Er ließ seine Frau und fünf Kinder auf dem Festland zurück und lebte seither bescheiden und allein von der mageren Rente eines pensionierten Soldaten. Er hatte es nicht leicht, doch er beklagte sich nie. "Der alte Herr Yu sprach selten über sich selbst", meint Ho. "Entweder war er beherrscht genug, sich nichts anmerken zu lassen, oder seine Gefühlsregungen hielten sich in Grenzen."

Aufragende Berge und terrassenartige Klippen - 67 x 130 cm, ca. 1988, Tusche auf Papier, mit freundlicher Genehmigung der Taipei Hanart Gallery.

Bei einer Gelegenheit jedoch sprach Yu ausführlich über sich. In seinem neunzigsten Lebensjahr wurde ein Interview für eine Radiosendung aufgenommen. Mit kräftiger und doch ruhiger Stimme berichtete er, daß er 1898 im Bezirk Yungchun in der Provinz Fujian als jüngstes von acht Kindern geboren wurde. Seine Mutter starb, als er zwei Jahre alt war. "Ich habe nie erfahren, wie meine Mutter aussah", stellte er während des Interviews fest. "Das habe ich mein ganzes Leben lang bedauert."

Yu war elf, als sein Vater, ein schwerarbeitender Bauer, 1909 während der Arbeit im Reisfeld einen Unfall hatte und bald darauf starb. Das Leben war furchtbar hart. "Wir aßen wildwachsende Süßkartoffeln", erinnerte sich Yu. "Unsere einzigen Kleider waren aus Lumpen gemachte Hosen, Schuhe hatten wir keine. Trotzdem schien es nicht so schlimm, denn es waren ja alle so arm." Die meisten Tage verbrachte er damit, in den Bergen Brennholz zu schlagen, von dessen Verkauf er lebte. Das hart erarbeitete Geld teilte er mit einem armen alten Mann, der nebenan wohnte. Mit dreizehn wurde er bei einem Möbelschreiner angestellt, bei dem er Holz schnitzen und malen lernte.

Erst mit vierzehn betrat er das erste Mal eine Schule. Vom Rektor lernte er klassische Gedichte, und innerhalb weniger Jahre machte er sich in der dortigen Region als Dichter einen Namen. Mit 22 heiratete er. "Meine Frau war nicht besonders hübsch", gab er zu. "Zu dieser Zeit mußten die Frauen den ganzen Tag in der Sonne arbeiten. Sie trugen dabei nicht einmal Schuhe. Die meisten waren dunkel häutig und mager. Meine Frau war Analphabetin, aber sie hat sich gut um die Familie gekümmert, obwohl ich nicht oft zu Hause war."

Der Yangtze-Fluß im Frühling - 60 x 240 cm, ca. 1976, Farbe und Tusche auf Papier, mit freundlicher Genehmigung des Han Tang Kunst- und Kulturzentrums.

Mit 27 kam Yu nach Taiwan, um Japanisch zu lernen. Die Insel war zu der Zeit noch japanische Kolonie. Hier beobachtete er, wie schlecht taiwanesische Arbeiter von den Japanern, die versuchten, die einheimische Kultur zu unterdrücken, behandelt wurden. Ein Kaufmann aus Singapur wurde ein großer Bewunderer von Yus Poesie und bot ihm deshalb an, das Studium an der Militärakademie in Tokio zu finanzieren. Zu dieser Zeit litt China unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen, hervorgerufen durch die zahlreichen konkurrierenden Militärmachthaber. Gute militärische Führungskräfte wurden also dringend gebraucht, und Yu nahm das Angebot des Kaufmannes an.

"Die Japaner behandelten uns nicht anders als die anderen Studenten", erinnerte er sich. "Doch die bevorstehende Invasion lag schon in der Luft, und die antichinesische Atmosphäre verdichtete sich. Ich lernte alles, was es zu lernen gab, aber insgeheim stellte ich mir vor, wie das große China eines Tages das kleine Japan erobern würde."

Yu Cheng-yao kehrte auf das Festland zurück und begann seine militärische Karriere. Zuerst war er Ausbilder an der Militärakademie von Whampoa, die von Sun Yat-sen gegründet worden war und bald darauf zur Schmiede der chinesischen Offizierselite wurde. Als 1937 der chinesisch-japanische Krieg ausbrach, wurde Yu zum Truppeninspekteur ernannt. Im Rahmen des Dienstes marschierten er und seine Männer kreuz und quer durch China. Er hielt sich in den südwestlichen Provinzen Guangxi, Hunan, Jiangxi, und Zhejiang sowie in den nordöstlichen Provinzen Gansu, Shanxi, Shaanxi und der Mongolei auf. "Immer wenn ich an einen neuen Ort versetzt wurde, informierte ich mich vorher sowohl über die Geschichte und Geographie der jeweiligen Gegend als auch über die Mentalität der Menschen dort", erwähnte Yu während des Interviews. "Ich interessierte mich für die lokalen Sitten und Bräuche. Außerdem verbrachte ich viel Zeit mit Wandern in den Bergen."

Kalligraphie, Ohne Titel - 68 x 70 cm, 1989, mit freundlicher Genehmigung des Han Tang Kunst- und Kulturzentrums.

Yus Exkursionen waren von dem unstillbaren Wissensdurst eines Reisenden erfüllt. Weil er mit einem guten Gedächtnis gesegnet war, hatte er immer wieder interessante Reiseerlebnisse zu erzählen. Er erinnerte sich zum Beispiel noch gut an die Besteigung des Berges Hua in der Provinz Shaanxi. "Die Berge im Norden Chinas sind großartig, ehrfurchtgebietend", schwärmte er. "Stellen Sie sich das vor - die Berge bestanden ursprünglich aus kompakten Schichten von Erde und Stein. Im Laufe von Millionen von Jahren wurde die Erde durch Wind und Regen ausgewaschen, bis nur der Stein übrigblieb, in völlig seltsame Formen aufgebaut. 'Das Schwerttor' am Berg Hua beispielsweise besteht aus zahllosen schwertförmigen Felskegeln. Wir waren zu dritt und mußten uns am Seil festklammern, um nicht abzustürzen. Mit zusammengebissenen Zähnen kletterten wir langsam die fast senkrechte Wand empor. Wir wagten nicht, hinunterzuschauen oder auch nur zu denken. Auf etwa 2000 Metern Höhe erreichten wir eine schmale Brücke, die zwei Gipfel miteinander verband und einige hundert Schritt lang war. Außer dieser Brücke gab es keinen anderen Weg hinüber. Wir gingen in die Knie und krabbelten vorwärts, während uns ein schaurig starker Wind über dem gähnenden Abgrund durchschaukelte. Was haben wir gezittert!"

Yu machte in den Gebieten, durch die er gerade kam, auch viele interessante Entdeckungen. "In der Gegend von Huian in der Provinz Fujian bleiben verheiratete Frauen die Nacht über bei ihren Männern, am Tag aber kehren sie zu ihren Familien zurück", erinnert er sich. "Erst nachdem das erste Kind geboren ist, dürfen sie bei der Familie des Mannes leben. Die Denkweise der Frauen dort war sehr konservativ und traditionell. Doch trugen sie Kleider, die ihren Bauch entblößten. Deshalb nennen sie die Leute auch 'feudale Köpfe, moderne Näbel'."

Während dieser Zeit als Inspekteur machte er ausführliche Notizen und nahm sich sogar die Zeit, die 294-bändige Chronik der klassischen chinesischen Geschichte, Tzu-chih tung-chien (資治通鑑), oder "Durchgehender Spiegel zur Hilfe bei der Regierung" [vom chinesischen Historiker Sima Guang, 1084] durchzulesen. Er schrieb auch weiterhin Gedichte, in denen er viele seiner Erfahrungen als Reisender verarbeitete.

Der Krieg gegen Japan endete mit einem schwererkämpften Sieg für die Chinesen. Die Offiziere, die sich mit allen Kräften für den Sieg eingesetzt hatten, wurden fast ausnahmslos mit Geld und Beförderungen belohnt. 1946 jedoch schied Yu ohne viel Aufhebens aus der Armee aus. Seine Rente reichte nicht einmal, um die Fahrt von Schanghai nach Fujian zu bezahlen. Es gelang ihm jedoch, den Rest des Fahrgeldes aus Gewinnen beim Mah-Jongg zu finanzieren.

Wieder zu Hause, verdiente er seinen Lebensunterhalt, indem er als Import-Exportvertreter mit Heilkräutern zwischen Fujian, Singapur und Taiwan handelte. Als die Kommunisten 1949 das chinesische Festland einnahmen, befand sich Yu gerade auf Geschäftsreise in Taiwan. Er beschloß, seinen Aufenthalt etwas zu verlängern und auf eine Entspannung der Lage zu warten. Nie hätte er gedacht, daß sein verlängerter Aufenthalt vierzig Jahre dauern würde.

Die Aufrichtigkeit halte ich für die Essenz der Kunst und das wahre Gefühl ist das Feuer, das ihm das Licht verleiht. Der tapfere und schöpferische Geist ist zeitlos - Ich sehne mich danach, meinen eigenen Weg zu gehen.

Yu hatte bald genug vom Geschäftsleben in Taiwan. "Das ist doch kein Leben, wenn man sich dauernd um Geld kümmern muß", klagte er. Zur Ablenkung besuchte er oft das Nationale Palastmuseum. Die Berge, die auf den traditionellen Tuschezeichnungen dargestellt waren, glichen nicht denen in seiner Erinnerung. Sie waren zu blaß, zu flach - sie hatten zu wenig Energie und Abwechslung, es fehlte die notwendige feste Struktur und der Kontrast zwischen hell und dunkel. "Warum male ich sie nicht einfach selbst?" fragte er sich. Und so nahm er im Alter von 56 Jahren das erste Mal einen Pinsel in die Hand.

Als in seinen späten Jahren eine Sammlung seiner Werke mit dem Titel Majestic Mountains: Yu Chellg-yao mit Neunzig von der Hanart Gallery Taipei herausgegeben wurde, verfaßte er eine kurze autobiographische Notiz als Vorwort. "Einige lachten mich aus", schrieb er darin. "Sie meinten, ich sei weder ausgebildet noch habe ich Geld. Da dachte ich an die Worte von Tu Fu (712-770, ein angesehener Dichter der Tang-Dynastie): 'Zehn Tage, um einen Fluß zu malen, und fünf für einen Felsbrocken.' Ich beschloß, mir genügend Zeit zu lassen und dem Ergebnis keinen allzu großen Wert beizumessen." Für sein erstes Bild, Länge und Breite jeweils 20 Zentimeter, brauchte er drei Jahre.

Yu Cheng-yao verarbeitete die Erfahrungen seines ganzen Lebens in seinen Bildern. "Immer wenn ich in den Notizen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, stöberte, kamen plötzlich so viele Erinnerungen zurück", schrieb er. Seine Gedichte erzählten normalerweise von den Szenen, die sich so lebendig in sein Gedächtnis eingeprägt hatten. "Großartige Berggipfel und endlose Abgründe habe ich gesehen/ steil und felsig; donnernde Wasserfälle./ Doch das Land im Südosten liebe ich mehr,/ mit seinem milden Frühling, und den Weinreben im Wind."

Er lernte, die Eindrücke der Natur in seinem Gedächtnis einzufangen. "Immer wieder habe ich Dinge in der Natur beobachtet, aus der Nähe sowie aus der Ferne", schrieb er. Es lag ihm nichts daran, die photographische Wirklichkeit zu repräsentieren, sondern eine, die aus dem rein subjektiven Gedächtnis stammt. In einem anderen Gedicht schrieb er: "Die Aufrichtigkeit halte ich für die Essenz der Kunst/ und das wahre Gefühl ist das Feuer, das ihm das Licht verleiht./ Der tapfere und schöpferische Geist ist zeitlos -/ Ich sehne mich danach, meinen eigenen Weg zu gehen./ Ich strebe danach, mehr als nur die äußeren Formen der Dinge darzustellen,/ um ihren Geist innerhalb dieser Berge und Ströme zu finden."

Anfangs erkannte niemand Yus Talent für die Malerei, außer Liang Tsa-ping (梁在平), seit vierzig Jahren ein enger Freund Yus und Fachmann in traditioneller chinesischer Musik. "Eines Tages schickte er mir ein Bild", erzählt er. "Es überraschte mich, daß er malen konnte und sich zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre lang damit beschäftigt hatte. Manchmal hockte er stundenlang am Boden, zog einen Strich nach dem anderen, einen Punkt nach dem anderen, pinselte eine Schichte Tinte auf die nächste. Er arbeitete mehrere Monate an einem Gemälde, bis schließlich so viel Farbe und komplizierte Striche auf dem Bild waren, daß es überhaupt keine freie Stelle mehr gab." Warum wandte er diese Technik an? "Er malte eben auf seine eigene Art und Weise, weil er nie Malerei studiert hat", sagt Liang. "Er verwendete nur die einfachsten Geräte - Pinsel, Tusche und billige Farben." Das war für Yu nie ein Grund, sich entschuldigen zu müssen. "Je einfacher das Material, desto klarer der Stil", war sein bündiger Kommentar.

Zehn Jahre, nachdem Yu das erste Mal den Pinsel ergriff, bekam Liang Besuch von Li Chu-chin, Professor an der Universität Kansas. Das Gemälde, das er an der Wand hängen sah, beeindruckte ihn so stark, daß er den unbekannten Maler kennenlernen wollte. 1966 nahm Li das Gemälde Yus zusammen mit Arbeiten von drei anderen modernen chinesischen Tuschezeichnern mit auf eine Austellung in die Vereinigten Staaten. Das Gemälde fand unter Sammlern aus Europa und Amerika einige Beachtung, so daß Yu außerhalb seiner Wahlheimat bekannt wurde. Doch es dauerte weitere zehn Jahre, bis Yus Werke auch in Taiwan Anerkennung fanden. Den erfahrenen Kunsthändler Hu Yi-hsun (胡懿勳) überrascht das nicht. "Das war schon immer so", meint er. "Taiwan folgt blind den Trend aus Europa und Amerika. Viele Künstler werden in Taiwan nicht anerkannt, doch sobald sie in Übersee einen Namen haben, reißt man sich in Taiwan um sie. Im Fall Yu Cheng-yaos war die Reaktion Taiwans allerdings besonders langsam."

1986 schrieb Joan Stanley-Baker einen Artikel namens "Der alte Herr Yu: Talent und Vision", der in der Mai-Ausgabe der englischsprachigen Zeitschrift Free China Review veröffentlicht wurde. In diesem Bericht wurde Yu das erste Mal in den taiwanesischen Medien als Maler vorgestellt. Im selben Jahr fand seine erste Ausstellung in der Hsiung-Shih-Galerie statt. Chen Mei-o beschreibt, wie sie Yu überreden mußte, einer Ausstellung seiner Werke zuzustimmen: "Zuerst weigerte er sich mit der Begründung, er male nicht, um Geld zu verdienen. Ich erwiderte, er könne mit dem Geld zur Förderung von nan kuan (mit Holzblasinstrumenten gespielte Musik aus Südchina), seinem Steckenpferd, beitragen. Schließlich willigte er ein." Die Ausstellung war ein immenser Erfolg. Das Talent Yu Cheng-yaos war nun in aller Munde.

Landschaft - 118,5 x 59 cm, ca. 1975, Tusche auf Papier, mit freundlicher Genehmigung des Han Tang Kunst- und Kulturzentrums.

Und nicht nur das. Die Werke Yus sorgten in den Künstlerkreisen Taiwans wahrhaft für Wirbel. Die Kritiker stritten darüber, ob er als traditionalistisch oder revolutionär eingestuft werden sollte, als Maler vom Festland oder aus Taiwan. Plötzlich gab es die verschiedensten Geschichten, die erklären wollten, warum während der letzten dreißig Jahre niemand Notiz von ihm genommen hatte. Journalisten, Kunstkritiker und Fachleute pilgerten zu der armseligen Hütte, die vorher keinen Abstecher wert gewesen war. Yu hatte so viel mit diesen Gästen zu tun, daß er zum Malen keine Zeit mehr fand und sich aus diesem Grund auf die Kalligraphie konzentrierte. Er zeigte sich immer höflich und gastfreundlich. Er kochte den Gästen Tee, unterhielt sich ausgiebig mit ihnen und schickte ihnen später sogar Malereien und Kalligraphien als Geschenke. Doch immer, wenn die Besucher sich auf den Weg gemacht hatten, mußte er sich zwei, drei Stunden ausruhen, um Energie wiederzugewinnen. Immerhin war er neunzig.

Es schien unvermeidbar, daß die Besitzer von Yus Gemälden eine Menge Geld daraus machten. "Diejenigen, die sein Angebot für ein Bild ablehnten, bereuten dies später bitter", behauptet Chen Mei-o. 1991 wurde eines seiner Bilder in Taipei auf einer Auktion von Sothebys für 6,82 Millionen NT$ (rund 370 000 DM) verkauft. Das Bild war einige Jahre vorher von dem hochrangigen Kunstkritiker C. C. Wang (王季遷) in Auftrag gegeben worden. Yu Cheng-yao arbeitete drei Monate ohne größere Unterbrechung daran. Für ihn war das ungewöhnlich, da er sonst eher langsam und bedächtig arbeitete. Yu erzählte Liang Tsai-ping, daß er nach der Fertigstellung des Gemäldes eine Woche kaum einen Bissen essen konnte. Für dieses und drei andere Gemälde bezahlte Wang ursprünglich 800 US$ (1400 DM). Wie dieses eine Kunstwerk auf die Sothebys-Auktion gelangte oder wer der Verkäufer war, blieb unklar. Daß Yu Cheng-yao von dem Verkauf keinen Gewinn hatte, ist allerdings sicher.

"Geld war ihm völlig schnuppe. Er war ein Heiliger", meint Yu Tzu-ming (余子鳴), ein pensionierter Soldat, der aus demselben Dorf stammt wie Yu. "Immer wieder haben sich Leute von ihm Geld ausgeliehen, ohne es zurückzugeben. Manche seiner Bilder wurden geklaut. Doch er regte sich nie allzusehr darüber auf."

1991 kehrte Yu schließlich in seine Heimatstadt in der Provinz Fujian zurück. Beim Anblick seiner Frau, die er über vierzig Jahre lang nicht gesehen hatte, bemerkte er nur: "Du bist ja auch nicht mehr die Jüngste. So wie ich." Leider trübte ein tragischer Vorfall die Freude über die Wiedervereinigung: Der älteste Sohn war kurz zuvor verstorben.

1994, ein Jahr nach dem Tod des Künstlers, gründete Chen Mei-o zum Andenken an ihren Vater eine Stiftung namens Yu Cheng-yao-Museum. Vor kurzem organisierte die Stiftung eine Ausstellung von Werken Yus in Paris und New York. Viele Besucher, die dort seine Bilder zum ersten Mal sahen, werden wahrscheinlich der Aussage Li Chu-chins zustimmen: "Yu war völlig unbeeinflußt von den oft durch formale akademische Ausbildung auferlegten Zwängen und der Versuchung zur Imitation. Sein Charakter war der eines idealen traditionellen chinesischen Künstlers, und doch sind seine Werke trotz einer uralten Tradition der Tuschemalerei einmalig."

Was wäre wohl Yus Meinung, könnte er all die Lobgesänge hören und sehen, wie seine Arbeit international Anerkennung findet? Er würde sich wahrscheinlich mit einem Achselzucken und seinem freundlichen Lächeln begnügen und wie so oft kommentieren: "Na und?"

(Deutsch von Herbert Salvenmoser)

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